Immer weniger Zeitzeugen können in Schulen von ihren Erlebnissen während der Nazizeit berichten
Ohne einen Bombensplitter besucht Claus Günther keine Schulklasse. Das Metallstück ist etwa 20 Zentimeter lang und ziemlich schwer. Wie reagieren die Schüler? „Sie gucken den Splitter mit großen Augen an. Das ist etwas anderes, als den Krieg im Internet oder bei Ballerspielen zu erleben“, sagt der 93-Jährige. Viele Lehrer schreiben jhm hinterher, dass sie ihre Klasse noch nie so konzentriert wie bei den Besuchen erlebt haben. „Die Schüler“, so Günther, „stellen uns viele Fragen, manchmal auch kritische. Zum Beispiel, wie wir unsere Rolle in der Nazizeit heute sehen.“
Claus Günther und andere Zeitzeugen besuchen regelmäßig Hamburger Schulklassen. Die Besuche werden vom Verein Zeitzeugenbörse in St. Georg vermittelt. Für sein Lebenswerk wurde Günther von der Bezirksversammlung Hamburg-Mitte in diesem Jahr mit dem Ehrenamtspreis ausgezeichnet. Günther hat den Verein 1997 mitgegründet. Die Mitglieder haben Krieg und Diktatur selber erlebt und wollen diese Erfahrungen an Jüngere weitergeben und nicht schweigen, wie die Generation der Väter. Günther, der in Harburg aufwuchs und die Pogromnacht 1938 als Sechsjähriger erlebte, erinnert sich. „Mein Vater hat eine zumindest unrühmliche Rolle gespielt. Er war an diesem Abend Fahnenträger der SA und hat die Synagoge abgesperrt, als sie geplündert wurde. Wenn ich meinen 1972 verstorbenen Vater nach dieser Zeit fragte, hat er aus Scham geschwiegen. Ich habe ihn nicht zum Reden bringen können, da ging es mir wie vielen aus meiner Generation.“
Weil es bald keine lebenden Zeugen des Alltags in Nazideutschland mehr geben wird, sind die Hamburger Zeitzeugen gefragte Gäste. In der Geschwister-Scholl-Stadtteilschule in Osdorf erinnern sich viele an die Besuche von Wilhelm Simonsohn. Der Gast aus Bahrenfeld sagte den Jahrgängen acht bis elf zur Einleitung stets: „Ich hatte nicht das Format der Geschwister Scholl, deshalb sitze ich hier vor Ihnen.“ Die Widerstandskämpfer der „Weißen Rose“ waren für Simonsohn ein Vorbild.
„Träumen Sie noch vom Krieg?“, fragte ihn ein Schüler im Februar 2021. Simonsohn bejahte. Durch seine Kriegserlebnisse war er zum Pazifisten geworden. Am 8. Mai 1945 reagierte er erleichtert, dass der Zweite Weltkrieg mit der deutschen Kapitulation zu Ende ging, dass „das Morden nun endlich ein Ende gefunden hatte“. Den 8. Mai feierte er seitdem als seinen zweiten Geburtstag. Der russische Angriff gegen die Ukraine hatte ihn schwer erschüttert und seine optimistische Weltbild wie ein Kartenhaus zusammenfallen lassen „Ich hoffe, dass auch Herr Putin eines Tages mit einem ,Stalingrad‘ die Rechnung seiner Verhaltensweise bezahlen wird“, schrieb Simonsohn im Frühjahr 2023. Wenige Monate starb Wilhelm Simonsohn. Er wurde 104 Jahre alt.
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